Die Frage nach dem Hundeblick

Es ist still geworden auf dieser Seite, die eigentlich dazu da sein soll, euch regelmaessig von ein paar meiner Eindruecke und Gedanken zu erzaehlen. Das liegt nicht daran, dass ich nichts erlebe, geschweige denn nichts denke. Es ist jedoch schwierig im Alltag, der mich umgibt, das herauszufiltern, was fuer einen Aussenstehenden von Interesse sein koennte und obendrein einen Ton zu finden, der die Dinge weder dramatisiert noch pauschalisiert und ihnen die Bedeutung beimisst, die sie wert sind.
Alles was ich hier erlebe und schreibe ist rein subjektiv. Wenn ich etwas schreibe, dann mischen sich automatisch in die Fakten immer meine persoenliche Gefuehlslage und meine Meinung. Ich bewerte, was erzaehlenswert ist und was nicht.

Heute moechte ich euch von einer unserer Bewohnerin des Hauses erzaehlen, die den Alltag hier in Concordia in besonderer Weise praegt und deren Schicksal mich in letzter Zeit ziemlich beschaeftigt.
S. wurde im Jahr 1982 in Sofia geboren und hat die ersten Jahre ihres Lebens bei ihren Eltern verbracht. Mit 7 Jahren ist sie in ein Heim fuer geistig retardierte Kinder gekommen, in dem sie 11 Jahre gelebt hat. Ab dem Alter von 18 Jahren lebte sie fuer einige Zeit bei ihrer Mutter, was aber keine besondere Stabilitaet fuer ihr Leben zur Folge hatte. Als die Mutter im Jahr 2006 starb, stand S. allein da, da ihre ywei Geschwister keinerlei Interesse an ihr zeigten sondern lediglich an ihrem ohnehin schon spärlichen Geld. S. lebte nach dem Tod ihrer Mutter 5 Jahre auf der Straße, bevor sie zu Concordia kam und hier ein neues zu Hause fand. Sie sammelte Pappe und Metall und suchte in Containern nach brauchbaren und verkaufbaren Dingen um sich die lebensnotwendigsten Dinge finanzieren zu können.

S. ist ein geistig unglaublich eingeschränkter Mensch, der viele Dinge, die man ihm erzählt nicht versteht. Falls sie jemals gelernt hat, auf Körperhygiene zu achten, so hat sie es vermutlich spätestens während ihrer Jahre auf der Straße wieder verlernt. Dennoch war und ist S. für mich immer eine ausgesprochen angenehme Gesellschaft, weil ihre Niedlichkeit einem in manchen Situation schier das Herz brechen kann und sie genau weiß welche Knöpfe sie in welcher Situation drücken muss, um zu bekommen, was sie möchte. Ihr Lieblingsknopf ist hierbei zumeist ein Hundeblick  sondergleichen mit einem fast zahnlosen Grinsen, zu dem man nur wahnsinnig schwer "nein" sagen kann.

Als ich S. im letzten Sommer kennengelernt habe, wurde sie mir unter ihrem Kosenamen "Tuta" vorgestellt mit der Begründung, dass sie nur "Тut-Tut"-Laute bilden kann, aus denen man sich dann den Sinn ihrer Worte zusammenreimen muss.

 

Die S. von vor 10 Monaten ist mit der heutigen in nichts zu vergleichen, was wohl die traurigste Geschichte ist, die ich in den Monaten meines Hierseins miterleben durfte.

Den Namen "Tuta", wenngleich er nach wie vor genutzt wird, würde heute niemand mehr für unsere Hausbewohnerin finden, da die "Tut-tut"-Laute seit ein paar Monaten ausbleiben und durch ein Röcheln ersetzt wurden, dass S. als die einzige verbale Verständigungsmöglichkeit geblieben ist.

Nach ca 6 Monaten intensiver Beschäftigung mit ihr, allwöchentlichen (ja, manchmal gar täglichen) Arztbesuchen, stetig fallendem Körpergewicht Tutas, tausendundeiner Fehldiagnose und  wachsender Ratlosigkeit angesichts S.'s Zustand, wurde (war es) im März (?) endlich die Diagnose gegeben. Eine Diagnose, die mich wahnsinnig wütend gemacht hat, kam sie doch zu spät und zeugte sie doch von vorangegangener schier unglaublicher Inkompetenz der Behandelnden Ärzte. S. wurden im Zuge einer Krankheit, die auch in Deutschland viele Menschen aus dem Leben nimmt und prinzipiell die erste Vermutung aller war, noch zwei bis drei Monate Lebenszeit prognostiziert. Nach 6 Monaten diese Diagnose! Warum muss das so laufen?

 

S. wiegt heute noch rund 35 Kilogramm, atmet durch ein Tracheostoma (Zugang nach einem Luftröhrenschnitt), ihre Körperhygiene hat sich um das Vielfache verschlechtert, Kleidung, die S. trägt sind durch das Tracheostoma nach maximal einer halben Stunde dreckig, eine Bandage bedeckt die immer größer werdende Wunde einer vorangeganenen Operation, die offene Wunde riecht mehr als streng, mqnchmal ist es in der Tat schwierig sich nicht vor Tuta zu übergeben. S. wird von den Kindern und Jugendlichen des Hauses gemieden, sie ekeln sich und haben Angst vor ihr.
Von vielen Seiten werden wir gefragt, was S. noch bei uns macht, warum sie nicht woanders hingebracht wird, z.B. in ein Krankenhaus. Die Antwort ist so einfach wie traurig und zugleich eine Zeichen dafür, dass die Arbeit, die wir hier machen, nicht ganz sinnlos ist: Es gibt keinen anderen Ort für S.. Sie möchte in ihren letzten Monaten hier bei uns sein, wo sich jemand ehrlich um sie sorgt und kümmert.

Lächeln hat Tuta verlernt. Was bleibt ist ihr Hundeblick. Und nahezu jeden Morgen wache ich mit dem Gedanken auf, ob ich diesen gestern das letzte Mal gesehen habe...

 

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