Filme, Zeichen der Zeit und ein Planet

Exkurs in die Filmwelt

 

Es gibt eine Art Film, die einen vor Klischees fast anschreit. Ein solcher Film spielt  zumeist in einer Kulisse der Armut. Die ersten Bildeinstellungen fuhren den Zuschauer in eine Welt ein, die ihm ganz fremd ist, obwohl sie sich „direkt vor dessen Haustur“ befindet.

Folgendermaßen könnte ein solcher Filmbeginn aussehen:

Eine Gruppe von „normalen“ Menschen fährt in einem Mittelklasse-Auto durch Unwegsames Gebiet. Sie folgen einem für Autos eigentlich zu schmalen Weg. Links und rechts dieses Weges liegt Müll. Leergegessene Joghurtbecher und Chips-Tüten, kaputte Eimer, Scherben kaputten Glases, zerbrochene Möbelstücke, zerrissene Kleidungsstücke und jede Menge Tüten. Ab und zu kommt dem Auto ein Mensch entgegen, der neugierig versucht, durch die Scheiben einen Blick auf die Passagiere zu erhaschen. Einige Meter links des Weges, den sich das Auto entlangkämpft befindet sich eine Mauer, dahinter fließt ein Fluss, eigentlich mehr ein verdrecktes Rinnsal. Jenseits dieses „Flusses“ stehen schiefe, rostige, verfallene Hütten aus Blech und Beton, aus denen laute, fremdklingende Musik schallt. Dorthin zu kommen ist allerdings unmöglich, da es rechts und links des schmalen Rinnsals besagte Mauern steil nach oben geht und weit und breit keine Brücke zu sehen ist. Das Auto fährt über eine Anhöhe und vor den Augen der Passiere zeigt sich nun die Brücke, die über die Schlucht führt. Einige schmale, porös wirkende Metallplatten, bieten weit und breit die einzige Möglichkeit, die Blechhütten zu erreichen. Auf der Brücke spielen filzhaarige Kinder in dreckiger Kleidung Fangen, lachen laut und rufen sich Dinge entgegen, die der Zuschauer des Films nicht verstehen kann.

 

Das Auto hält, die Insassen steigen aus und werden von einer Schar wild durcheinanderredender Kinder und Erwachsener umringt. Einige stellen Fragen, andere bitten um etwas, und wieder andere stehen etwas abseits und werfen misstrauische Blicke auf die Gäste. Die Schar ist eine bunte Mischung aus Jung und Alt, Dick und Dünn, Gesund und Krank. Eines verbindet sie alle: Sie scheinen die Fremden in der Szene zu sein, dabei sind eigentlich die Insassen des Autos jene, die in dieser Kulisse fremd und deplatziert wirken sollten.

 

Zwei alte Frauen setzen sich schließlich durch und bekommen die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kameraführung. So erzählen sie über ihr Leben, ihre Familie und ihren tiefen Glauben an das Gute und Gott. Eine der beiden Frauen führt den Zuschauer bald in ihr Häuschen. Der Zuschauer erwartet nun natürlich einen dunklen, dreckigen Verschlag, der für den nahenden Winter viel zu kalt ist. Aber nein, weit gefehlt. Die liebe Frau wohnt in einem wohlig warmen Hüttchen, das zwar klein, aber umso gemütlicher ist und über eine stilvolle Einrichtung verfügt. Drinnen spielt ein kleiner Junge während seine Mutter am Herd Kartoffeln schält. Später, als die Besitzer des Autos ihre Vorhaben hier erledigt haben und sich verabschieden, zeichnet die andere alte Frau, deren Zuhause der Zuschauer nicht kennengelernt hat, einer der Fremden mit dem Daumen ein Segenszeichen auf die Stirn.

 

Genug des Ausflugs in die Welt des Filmemachens und genug der Klischeebedienung für heute. Trotz all der Stereotypen, die diese kurze Szene bietet und trotzdem der kritische denkende Leser sich vielleicht dagegen wehren will, entspricht diese „Filmszene“ nahezu exakt einem Erlebnis, das ich letztens hier in Sofia hatte. Die beschriebene Kulisse existiert wirklich und ich habe mich tatsächlich gefühlt wie in einem dieser Filme, die man als weit hergeholt einschätzt. Noch einige weitere solcher Filme, die ich in letzter Zeit gesehen (oder vielmehr erlebt) habe, könnte ich nacherzählen. Sie erzählen von jungen Menschen, die des Lebens müde sind, von kleinen Fehlern und Entscheidungen, die eine große Chance verbauen, oder davon, dass es einen riesigen Bedeutungsunterschied zwischen Leid-sehen und sich-für-Leid-verantwortlich-fühlen gibt (egal, ob man es tatsächlich ist).

 

Zeichen der Zeit

 

Ein weiterer Film erzählt auch vom Einzug des Alltags in der Fremde und von der Gewöhnlichkeit bzw. Gewöhnung. Unglaublich, wie die Zeit es an sich hat zu rennen. Stand ich nicht eben noch in größter Aufregung, Freude und auch Angst am Dresdner Hauptbahnhof und hab mich gefragt, in welche Zukunft mich der Bus tragen wird? Bin ich nicht eben erst hier angekommen? So fühlt es sich an. Und doch ist ein Viertel meiner vorgesehenen Zeit in Sofia schon fast verflogen.

 

All die kleinen Filme, die sich in meinem Kopf abspielen, wenn ich die letzten 3 Monate rekapituliere sind ein klares Zeichen dafür, dass ich hier nicht mehr nur neu bin. Ein weiteres Zeichen dafür ist, dass ich inzwischen im Schlaf von den Menschen hier träume und sich nur ab und zu ein Dresdner in die Geschehnisse verirrt. Meine Gedanken finden nun wesentlich öfter im Hier und Jetzt statt als in der Heimat und der Vergangenheit. Ich habe eine ganze Weile – wesentlich länger als ich es von mir erwartet hätte – gebraucht, um in Sofia richtig anzukommen, aber vor einigen Wochen, war der Moment da, in dem ich Sofia „Zuhause“ genannt habe ohne dabei zu denken, dass ich mir dabei was einrede.

 

Ein Zeichen der verstrichenen Zeit ist auch der Unterschiede meiner Bulgarisch-Kenntnisse zwischen dem Tag meiner Ankunft hier und heute. Innerhalb der letzten Wochen war ich jeden Tag in einer Sprachschule und hatte dort 3 Stunden Unterricht, seit dieser Woche mache ich dies erneut für 3 Wochen. Das und der tägliche Kontakt mit den Jugendlichen haben mein Sprachverständnis während der letzten Monate ziemlich vorangebracht. Meine Empathiefähigkeit stößt inzwischen sogar fast an Grenzen, wenn Freunde oder meine Familie zu Hause, mit denen ich spreche Dinge wie „Така“ oder „Hали?“ nicht verstehen, weil ich nicht das Gefühl habe, diese Phrasen mal nicht verwendet zu haben. Es ist für mich inzwischen wirklich fast unvorstellbar, obwohl ich vor kurzer Zeit in genau der gleichen Lage war. Dadurch wächst mein Verständnis den Jugendlichen und Mitarbeitern gegenüber aber auch, wenn sie entnervt schauen, weil ich nach wie vor einiges nicht verstehe. Zuletzt sagte eine Kollegin und Freundin zu mir, als ich etwas Gesagtes nicht verstanden habe „Как не разбираш? Tрябва да разбереш!“ (Wie, du verstehst nicht? Du musst das verstehen!) Das klingt zwar hart, ist aber der richtige Weg für mich, denn in der Tat will und muss ich mehr verstehen. Das sagen mir mein Ehrgeiz und mein Drang zur Kommunikation. Ein anderer Freund und Kollege lernt momentan Deutsch. Wir haben eine Art Spiel, dass er nur noch Deutsch mit mir reden darf und ich nur noch Bulgarisch mit ihm. So geht es „Tippeltappeltour“ auf den Bulgarisch-Berg.

 

Weitere Zeichen:

 

Wenn ich mich in Sofia bewege brauche ich nicht mehr immer eine Karte dabeizuhaben, weil mir vieles schon vertraut ist.

 

Auf der Arbeit ist ein angenehmer Alltag eingekehrt, der aber bisher nicht langweilig wird. Anfangs dachte ich, jeder Tag hier sei gleich und ich hatte es zwischendurch schon mal ziemlich satt, aber irgendwann habe ich angefangen, mir meine Aufgaben zu suchen, mich auf die kleinen Dinge und Chancen, die die Tage bieten, zu konzentrieren und Zeiten der Langeweile mit sinnvollen Aktivitäten zu füllen. So habe ich zum Beispiel letzte Woche die Medikamente im Krankenzimmer von Deutsch nach Englisch übersetzt, archiviert, welche Medikamente gegen welche Beschwerden helfen und dann gemeinsam mit einer meiner Chefinnen das Krankenzimmer neu geordnet, was dem Zurechtfinden mit all der Medizin schon ziemlich zu Gute kommt.

 

Planet Concordia

 

Meine Arbeitsstelle kommt mir manchmal ein bisschen vor wie ein anderer Planet, auf dem ich lebe. In einigen Momenten vergesse ich, dass ich in der Welt, Europa, Bulgarien, in Sofia und im Stadtteil „Хаджи Димитър“ bin und wie viel es außerhalb des blauen Zauns gibt und sehe nur Concordia. Ich habe bisher fast ausschließlich auf diesem gelb-lila karierten Planeten gelebt, habe Freunde in Sofia nur innerhalb Concordias und kenne niemanden außerhalb. Woran das liegt kann ich gar nicht sagen. Ich weiß aber, dass der Planet Concordia mir zu einem angenehm vertrauten Ort geworden ist, mit dem ich schon jetzt viele schöne Erlebnisse und viele wertvolle Menschen verbinde.

 

Mehr kann und will ich Euch heute von den Filmen meiner Erinnerung und Erlebnisse, den Zeichen der Zeit und dem Planeten Concordia nicht erzählen. Einumfassendes Bild ist ohnehin unmöglich zu vermitteln. Ich werde einfach weitereFilme und Zeichen sammeln und Euch irgendwann erneut davon erzählen. Passt auf Euch auf und erzählt mir jederzeit von den Filmen, die euren Alltag ausmachen!


Mit lieben Grüßen aus Sofia bin ich
Eure Anna

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Kommentare: 1
  • #1

    Lukas (Samstag, 17 November 2012 17:18)

    Liebe Anna,

    danke für Deine ausführlichen Beschreibungen. Es macht Freude, Deine Texte zu lesen. Deine Filmbeschreibung laß sich wie ein Drehbuch. Ich hatte das Gefühl, dabei zu sein.

    Für die restlichen drei Viertel wünsche ich Dir Freude und Muße für die Arbeit, Kraft und Mut für die unangenehmen Phasen, Gelassenheit für den Alltag und vor allem Gesundheit an Leib und Seele.

    Herzliche Grüße,
    Lukas Gr.